12. Januar 2024

Ex-EFTA-Gerichtshof-Präsident zerpflückt Rahmenabkommen 2.0

«Das Projekt Rahmenabkommen war von Anfang an auf Bullshit aufgebaut», schreibt Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. h.c. Carl Baudenbacher, ehemaliger Präsident des EFTA-Gerichtshofs, auf «insideparadeplatz.ch». Dabei versteht er «Bullshit» explizit so, wie es der US-Philosophieprofessor Harry G. Frankfurt definiert hat: als «Gerede, das ohne Rücksicht auf Wahrheit überzeugen will». Genau damit wollen Exponenten aus dem EDA, der Konferenz der Kantone, der Exportwirtschaft und den Universitäten ein Rahmenabkommen 2.0 mit der EU – möglichst am Stimmvolk vorbei – durchboxen.

Noch am 21. Januar 2022 versicherte Bundesrat Ignazio Cassis hoch und heilig, dass es kein Rahmenabkommen 2.0 geben werde. Doch die entscheidenden institutionellen Elemente – dynamische Rechtsübernahme, Überwachung und Streitbeilegung – sind im Entwurf für ein Verhandlungsmandat mit denen des versenkten Rahmenvertrags «praktisch identisch», wie Baudenbacher klarstellt. Und ob sich die Hoffnung erfüllt, zum Beispiel beim Lohnschutz oder der Unionsbürgerrichtlinie, eine Freistellung vom Auslegungsmonopol zu erreichen, «ist sehr fraglich». Für die Schweizer Bevölkerung bedeutet das: «ausser Spesen nix gewesen».

Auch mit Blick auf das Pro-forma-«Schiedsgericht» hat die Schweiz – entgegen offiziellen Beteuerungen – keine Verbesserungen erzielt. Dieses ist nur ein «Deckmantel». Denn es ist verpflichtet, den Europäischen Gerichtshof (EuGH) anzurufen, sobald EU-Recht «impliziert» wird, erklärt Baudenbacher. Die Kommission und der EuGH sind EU-Institutionen. «Nirgendwo sonst im internationalen Recht gibt es zwischen gleichberechtigten Partnern eine Situation, in der sich der eine de facto der Aufsicht und Rechtsprechung der Institutionen des anderen unterwirft.» Baudenbacher kritisiert zudem, was der Bundesrat verschweigt: Das Bundesgericht wäre vom Streitbeilegungsverfahren ausgeschlossen. «Kein oberstes Gericht der EU oder des Europäischen Wirtschaftsraums wird so schlecht behandelt», schreibt Baudenbacher.

Das Modell mit dem «Schiedsgericht» und dem EuGH hat die EU für die Ukraine, Moldawien, Georgien und Armenien ausgeheckt. Staaten, die am EU-Finanztropf hängen. Ganz anders die Schweiz: Sie müsste milliardenschwere Kohäsionszahlungen leisten. Braucht es bei einer Abstimmung über das Rahmenabkommen ein Ständemehr? Neuerdings kursiert die Auffassung, wonach das umstritten ist. Dabei ist gemäss Bundesverfassung völlig klar, dass dies der Fall wäre, wie Baudenbacher ausführt.

Wird das Rahmenabkommen 2.0 unterzeichnet, gibt die Schweiz einen Grossteil ihrer Souveränität unumkehrbar an die EU ab. Angesichts dieser Tragweite fordert autonomiesuisse Bundesbern, Politik, Institutionen und Interessenvertreter zum «Fair Play» auf. Als Bewegung aus dem Unternehmertum appelliert sie auch an ausländische Konzernchefs, sich mit der direkten Demokratie und dem Föderalismus der Schweiz auseinanderzusetzen. Zu oft geniessen wir die Früchte des Schweizer Erfolgsmodells, vergessen aber dessen Wurzeln.