Schutzklausel: Hat der Bundesrat die rosarote Brille auf – oder will er uns Sand in die Augen streuen?
«Bei keinem Thema scheinen die EU und die Schweiz so aneinander vorbeizureden wie bei der Zuwanderung», schreibt die «NZZ». Die Schweiz wolle die Zuwanderung begrenzen können: «Die EU-Kommission dagegen verteidigt die Personenfreizügigkeit mit Zähnen und Klauen als grosse Errungenschaft».
Bundesrat Beat Jans scheint diesen Interessenkonflikt nicht wahrzunehmen. Er glaubt, neue Verträge mit der EU würden der Schweiz erlauben, die Zuwanderung aus der EU im Alleingang zu steuern. «Bundesrat Jans stiftet Verwirrung mit Aussagen zur geplanten Schutzklausel», bringt es die «NZZ» auf den Punkt.
Was war geschehen?
Mit ihrer Nachhaltigkeitsinitiative will die SVP die Bevölkerung der Schweiz bei 10 Millionen Personen begrenzen. Der Bundesrat empfiehlt, die Initiative abzulehnen. Spannend ist nun, wie Jans argumentiert: Ein Gegenvorschlag sei gar nicht nötig. Denn man könne die Schutzklausel zur Zuwanderung im Vertrag mit der EU als solchen ansehen. Der Bundesrat erweckt also den Eindruck, als hätte er freie Hand bei den Abhilfemassnahmen gegen eine zu hohe Zuwanderung.
«Bei manchen Beobachtern in Brüssel hat diese Aussage Erstaunen ausgelöst, und sie scheint auch Kommentaren von Berner Beamten zu widersprechen», schreibt die «NZZ».
Sieben Fakten:
1. Die Rahmenverträge mit der EU sind noch nicht unterzeichnet – das letzte Wort haben Volk und (hoffentlich) Stände.
2. Der Wortlaut der Verträge ist noch nicht veröffentlicht.
3. Das Q&A der EU-Kommission zum Vertragsabschluss setzt die Hürden, die Schutzklausel je zu aktivieren sehr hoch.
4. Es braucht zwei Voraussetzungen, damit die Schweiz die Schutzklausel anrufen kann. Erstens muss das Land in «schwerwiegende wirtschaftlichen Schwierigkeiten» (Originalton) stecken, und zweitens müssen diese eine direkte Folge der Zuwanderung aus der EU sein.
5. Zuerst müsste ein gemischter Ausschuss eine gemeinsame Lösung finden – unilateral kann die Schweiz nichts unternehmen.
6. Falls keine Einigung erzielt wird, kann die Schweiz die Angelegenheit dem Schiedsgericht vorlegen. Für dieses ist die Auslegung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bindend.
7. Sollte die Schweiz einmal Recht erhalten, könnte sie temporäre Massnahmen zur Bewältigung der wirtschaftlichen Probleme einführen – aber die EU dürfte explizit Gegenmassnahmen ergreifen.
Ein Papiertiger ohne Zähne
autonomiesuisse hält es aus zwei Gründen für höchst unwahrscheinlich, dass sich die Schweiz mit der Schutzklausel je vor dem EuGH durchsetzen kann. Erstens ist die Zuwanderung aus der EU meist ökonomisch motiviert. So betrachtet ist es kaum denkbar, dass die Schweiz wirtschaftlich ernsthaft schlechter dasteht als die EU und dennoch eine sehr hohe Zuwanderung aus der EU verzeichnet. Zweitens zählt für die Auslegung vor dem EuGH nur der EU-Vertrag – nicht die Schweizer Bundesverfassung.
Egal, wie «hart» Bundesrat Jans seine Schutzklausel formulieren will: Sie bliebe also faktisch ein Papiertiger ohne reale Wirkung.
Warum also redet Bundesrat Jans die Möglichkeiten der Schweiz dennoch gross? Laut «NZZ» foutiert er sich um eine Antwort und vertröstet darauf, dass die Öffentlichkeit im Juni mehr erfahren würde, wenn der Bundesrat die Vorlage präsentiere.
Bis dahin kann sich autonomiesuisse das Verhalten des Bundesrats nur so erklären: Entweder verklärt die rosarote Brille seine Sicht auf die EU. Oder will er dem Volk gar wie das «Sandmännchen» Sand in die Augen streuen, damit es weiter träumt?