NZZ-Chefredaktor: Geht er nach dem ersten richtigen Schritt auch den zweiten?
Die Europawahl nimmt der «NZZ»-Chefredaktor Eric Gujer zum Anlass, den Europäischen Rat unter die Lupe zu nehmen. Sein Urteil fällt vernichtend aus. Während sich die EU gerne als Hort der Demokratie aufspielt und Defizite in anderen Staaten anprangert, wirkt der Europäische Rat nur noch im Ausnahmezustand als Souverän. Ansonsten dominieren Richter das Gremium. «Nicht mehr gewählte Regierungen bilden im Europäischen Rat den obersten Gesetzgeber, sondern demokratisch nicht legitimierte Richter.» Das Demokratiedefizit der EU und die Abgehobenheit der europäischen Institutionen nehme beständig zu und lasse nationalkonservative Protestparteien erst recht gedeihen. «Alles wird noch formalistischer, noch träger und schliesslich willkürlich», schreibt Gujer. Spürbare Veränderungen bringt die EU nur zustande, wenn Krisen wie etwa das Griechenland-Fiasko oder Covid-19 sie erzwingen. «In diese Lücke springt der Europäische Gerichtshof. Er baut die Verträge, die von Nationalstaaten geschlossen und verändert werden, zu einer Art Verfassung um», kritisiert Gujer und folgert: «Kreativität und unternehmerischer Wagemut sind einer Union wesensfremd, die Richter und Regulierungen verehrt.» Nicht erstaunlich, stagniert die EU – unabhängig davon, wer an der Macht ist.
autonomiesuisse fragt sich, wie lange es noch dauert, bis Gujer aus seiner messerscharfen Diagnose auch die richtigen therapeutischen Massnahmen für die Schweiz ableitet. Mit der Paketlösung des Bundesrats würde sich die Schweiz weitgehend dem Europäischen Gerichtshof unterwerfen und an die überregulierte und global ins Hintertreffen geratene EU binden. Das wäre das Ende des friedlichen Bilateralismus, der immer eine Win-win-Situation für beide Seiten anstrebt. Wann macht Gujer nach dem ersten richtigen Schritt auch den zweiten? Und vor allem: Wann merkt der Bundesrat, dass er sich in die falsche Richtung bewegt?