06. Dezember 2021

Warum die Schweiz anders tickt als die EU

Um das Verhältnis der Schweiz zur EU zu gestalten, solle man sich einfach der Vernunft bedienen – fordern viele Politikerinnen und Politiker. Oliver Zimmer, Geschichtsprofessor der University of Oxford und ab 1. Januar 2022 Research Director beim Zürcher Forschungsinstitut Crema, zeigt in der «NZZ», warum dieser Ruf naiv ist. Demnach lassen sich «die unterschiedlichen Institutionen und politischen Sensitivitäten in Europa ohne das Konzept der Mentalität nicht erklären». Der Graben zwischen der EU und der Schweiz habe tiefe historische Ursachen. So funktioniere in der Schweiz das Nation Building grundlegend anders als in den Nachbarländern. Dem zentralistischen Modell à la française stehe das anarchische Muster der Eidgenossenschaft entgegen. Im zentralistischen Modell «tritt der Staat als Hüter der Wahrheit und als Zivilisator seiner Bürger auf». Lokale Autonomie hielt der Staatstheoretiker Emmanuel Joseph Sieyès (1748–1836) für «ein Zeichen von Rückständigkeit». Im anarchischen Nation Building wird der Staat dagegen von unten nach oben gebaut. Dem Gebilde fehle es an der «eleganten Geometrie», schreibt Zimmer. Von aussen gesehen wirkt es unübersichtlich, weswegen einige von «Flickenteppich» sprechen. Der Historiker Herbert Lüthy meinte daher, dass die Mentalität der Schweiz «einem Kongolesen, dem sein Stamm oder Dorf die Welt ist, leichter verständlich als einem Nachbarn» aus Frankreich sei. Jedenfalls entschieden sich die Kantone Wallis, Genf und Neuenburg einst für die Schweiz – nicht für Frankreich oder Italien. Zimmer folgert, dass die archaische Eidgenossenschaft womöglich mehr Modernität hervorgebracht habe als die brillanten Staatsphilosophen: «Der Geist und die Wirklichkeit des Zentralismus fördern den Fortschritt nicht – sie behindern ihn.»

Buchtipp:

Oliver Zimmer, Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemässes zur Demokratie, Echtzeit-Verlag, 2020